Festrede von Präsident Juncker bei der Außerordentlichen Landeshauptleutekonferenz "100 Jahre Gründung der Republik Österreich"

Source: J.C. (Jean-Claude) Juncker i, published on Thursday, October 4 2018.

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,

Lieber Alexander,

Lieber Herr Bundespräsident außer Diensten, lieber Heinz,

Lieber Herr Bundeskanzler im Dienst, lieber Sebastian,

Exzellenzen, meine Damen und Herren,

ich bin heute gerne nach Wien gekommen. Das muss man zwar immer sagen, wenn man irgendwo redet, aber manchmal stimmt es. Und heute stimmt es in ganz besonderem Maße, weil ich der Einladung der Landeshauptleute gerne nachgekommen bin.

Ich treffe die Landeshauptleute regelmäßig in Brüssel oder sonst wo und ich mag diese Treffen sehr, weil wir ungestört über Europa und über die Bundesregierung schimpfen können. Weil: In Österreich gibt es eine Besonderheit zu besichtigen, und das ist aktiv gelebter Föderalismus. Und dies ist ein Kernelement österreichischen Seins. Und ich war stets der Auffassung: Ohne Regionen kann Europa nicht zu einem Kontinent werden, der nach innen Bestand hat und nach außen wirkt. Ich bin absolut der Auffassung, in 40-50 Jahren wird der Wettbewerb nicht mehr zwischen Staaten und Nationen stattfinden, sondern er wird zwischen Regionen stattfinden. Und zwar zwischen Regionen die grenzüberschreitend ihre Form bis dahin gefunden haben werden.

Und es ist wahr, es gibt zwischen klein und groß noch einen kleinen Unterschied. Ich sage der britischen Premierministerin immer, es gibt nur zwei große Länder in Europa: Großbritannien und das Großherzogtum Luxemburg. Und bald also nur noch eines. Insofern muss man sich mit den Dingen abfinden, so wie sie sind.

Wir feiern heute hundert Jahre Republik Österreich - ein stolzer Moment in der Geschichte. Ein kurzer Moment zwar, weil Österreich hat ja noch eine große Zukunft vor sich. Die Zukunft, so sagte Nestroy, ist eine undankbare Person, weil sie quält nur den, der sich sorgsam mit ihr beschäftigt. Deshalb ist jeder Blick in die Zukunft besonders gewagt, aber ich wage die Behauptung: Österreich hat eine große Zukunft. Und die Bundesländer auch. Ich verbringe im nächsten August zum zehnten Mal in der Folge meinen Sommerurlaub im Tirol. Der Landeshauptmann fiebert diesem Ereignis entgegen, weil er nämlich festgestellt hat, dass in meiner langen, breiten Ordenssammlung der Landesorden von Tirol fehlt. So geht ihr mit Leuten um, die treu zu Tirol stehen.

Aber Zukunft, meine lieben Freunde, braucht Herkunft. Und man muss sich an einem Tag wie heute, anlässlich einer Feier wie heute, mit Herkunft, mit Vergangenheit beschäftigen. Und die Jahreszahlen, die mit 8 aufhören, haben in der österreichischen Geschichte stets eine große Rolle gespielt. Aber ich möchte nicht mit dem Jahr 1918 beginnen. Ich würde gerne das Jahr 1913 noch einmal besuchen, weil das Jahr 1913 hat es nämlich in sich. Im Jahre 1913 ging es Europa eigentlich gut. Im Jahre 1913 dachten fast alle Europäer, Krieg sei kein Phänomen, dass sich in Europa wieder feststellen lassen wird. Weil, dachten die Menschen damals, die Wirtschaft, die damals fast so globalisiert war wie heute - Globalisierung fängt nicht 2013 an, sondern die gab es auch schon 1913 - die Kapitalisten, die führen keinen Krieg untereinander, und die verwandten Kaiser- und Königshäuser auch nicht. So kann man sich irren, wenn man alles glaubt, was über Kapitalisten und Königshäuser so erzählt wird.

Im Jahre 1913 sind Hitler und Stalin sich im Wiener Stadtpark über den Weg gelaufen, haben sich nicht gegrüßt, weil sie sich nicht kannten. Es wäre übrigens besser gewesen, sie hätten sich nie kennengelernt, das hätte dem Kontinent gut getan. Wien war die Stadt - das wurde von dem Wiener Landeshauptmann hier mit hehren Worten und korrekt beschrieben -, Wien war damals eines der Zentren der Welt. Im geistigen Leben, literarisch, musikalisch, kulturell, war Wien eine Stadt und ist Wien ja auch heute noch eine Stadt.

Aber im Jahr 1913 waren Optimismus und Zuversicht Trumpf. Und trotzdem, ein Jahr später begann, wie die Franzosen sagen, la Grande Guerre, der große Krieg in Europa. Und das sollte nicht der letzte sein, weil 1939 ging es wieder los. Und zwischendurch, 1938, wurde ein dunkles Kapitel in der österreichischen Geschichte aufgeschlagen: Anschluss, Begeisterung, die die Luxemburger beispielsweise nicht nachempfinden konnten. Weil Luxemburg wurde 1940 von denen überfallen, die hier bejubelt wurden. Man darf nicht vergessen, dass Geschichte sich zwar nicht wiederholt, aber wer die Geschichte nicht kennt, wer sich in den Verästelungen der Geschichte nicht auskennt, dem fehlt die Kraft, Zukunft zu bedenken und Zukunft zu gestalten.

Nach 1945 haben wir die Wiedergeburt der Vernunft erlebt - nicht nur der Vernunft, auch dieser kontinentalen Zärtlichkeit, die es braucht, um mit den Augen des anderen nicht auf sich selbst und auf den eigenen Nabel zu schauen, sondern auf die Eigenarten, die Besonderheiten, die Befindlichkeiten der Nachbarn. Diesen Möglichkeitssinn, von dem Robert Musil gesprochen hat, mit Leben zu erfüllen, das ist Dauerauftrag von Politik und Gesellschaft.

Möglichkeitssinn ist ein schönes Wort, und das passt zu einer Aussage von Nelson Mandela, der gesagt hat: Es ist alles unmöglich bis es gemacht wurde. Und in Europa - nach dem Zweiten Weltkrieg - wurde vieles möglich, weil es Menschen gab, nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in der Breite und der Tiefe der europäischen Völker, die es machen wollten, weil sie die Fehler nicht mehr machen wollten, die gemacht wurden. Und deshalb verdankt Europa, die Europäische Union eigentlich der Kriegsgeneration sehr viel, die von den Frontabschnitten und aus den Konzentrationslagern zurück in ihre zerstörten Dörfer und Städte kam und aus diesem ewigen Nachkriegsgebet ''Nie wieder Krieg!'' ein politisches Programm entworfen hat, das bis heute seine Wirkung zeigt.

Und hätte man früher den Richtigen statt den Falschen zugehört, dann wäre es auch dazu überhaupt nicht gekommen. Ein von mir sehr bewunderter Österreicher, Richard Coudenhove-Kalergi, hat 1922 von der ''vernünftigen Utopie'' geredet, die darin bestanden hätte - so wollte er es -, dass man die europäischen Nationen zusammenführt. Und er hat gesagt: Europäische Zersplitterung führt zu Not, Elend und Krieg. Hätte man ihm zugehört, als er 1922 den verwegenen Plan vorstellte, Kohle und Stahl in einer europäischen Gemeinschaft zusammenzulegen, also die Kriegsmaterialien, die Kriegsinstrumente Kohle und Stahl zu neutralisieren, zu immer währender Neutralität zu führen, dann wäre diesem Kontinent vieles erspart geblieben.

Stephan Zweig spricht von "Weltaugenblicken". Dadurch, dass man Coudenhove-Kalergi nicht zugehört hat; dadurch, dass man ihn nicht ernst genommen hat; dadurch, dass man das, was er vorgeschlagen hat, nicht in die Tat umgesetzt hat, wurde ein großer "Weltaugenblick" verpasst. Und wir, die heute in Frieden leben und pfeifend über den Kontinent marschieren, sollten uns auch daran erinnern, dass Demokratie im noblen Sinn des Wortes Kampf, Aufstand und Einsatz braucht.

"Weltaugenblicke" kann man verpassen dadurch, dass man nichts tut oder dadurch, dass man im falschen Moment das Falsche tut oder dadurch, dass man nichts tut, weil einem alles egal ist, weil man ja schon alles hat. Den Fehler dürfen wir nicht machen. Deshalb ist auch die Stunde gekommen, wo man die Dinge zurechtrücken muss. Europa, die europäische Einigung kann nur zu Erfolg geführt werden, wenn sie nicht gegen die Nationen stattfindet. Die Vorstellung, Europa ersetze die Nationen, ist eine Vorstellung, der ich mich überhaupt nicht anschließen kann. Die Europäische Union wird nie zu den Vereinigten Staaten von Europa, nach dem Modellvorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, werden. Europa, die Europäische Union befindet sich nicht auf dem Wege der Verstaatlichung, aber wehrt sich auch gegen die Verzwergung. Ich bin gegen Verstaatlichung Europas und bin gegen die permanente Verzwergung Europas. Wir müssen aufstehen, wenn Gefahr von rechts sich ungehindert durchsetzt; wenn stupider Populismus und bornierter Nationalismus einen Marsch in die Zukunft antreten, den man stoppen muss, solange es noch Zeit ist.

Ich beschimpfe niemanden, schon gar nicht die Europaskeptiker. Für die habe ich jedes Verständnis. Es gibt viele Menschen, die nicht prinzipiell gegen Europa sind, sondern die viele berechtigte Fragen an Europa haben. Und mit diesen Menschen muss man Debatten führen, Diskussionen führen, Argumente austauschen anstatt so zu tun, als ob es diese Einwände nicht gäbe. Also wer in Brüssel arbeitet, wie mein Freund Johannes und ich - wir könnten noch massive Beiträge zu einer noch weiter entwickelten Euroskepsis anbieten, weil wir sind ja auch Euroskeptiker, sonst können wir ja in Wien und Luxemburg bleiben und brauchen nicht im sonnigen Brüssel unsere Zeit zu verbringen.

Also Freunde: Aufstehen, wenn Gefahr droht. Fruchtbar ist der Schoße noch. Ich besuche morgen - weil das auch zur Geschichte der Republik gehört, es wurde davon geredet, von Juden, von Roma, von Sinti - aus Anlass des 100. Geburtstags der Republik die jüdische Gemeinschaft zu Wien und die Synagoge in Wien. Man muss manchmal symbolisch etwas tun, was über den Tag hinausreicht.

Österreich spielt ja eine wichtige Rolle, wenn es um die Gestaltung kontinentaler Gesamtverhältnisse geht. Österreich ist klassisch, traditionell ein Brückenbauer. Das hat Österreich gezeigt, auch vor kurzem noch, als es um die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa ging. Österreich hat einen großen Beitrag zur Verständnismehrung der Notwendigkeiten des europäischen Zusammenschlusses geboten. Also, die Begeisterung war groß. Als es dann soweit war, tauchten Nuancen auf - die sind aber jetzt einigermaßen wieder ausgebügelt. Aber Österreich hat sich verdient gemacht um diesen Kontinent und hat in dem Moment, wo europäische Geschichte und europäische Geografie wieder zusammenfanden, die Mittelrolle gespielt, die Österreich zukommt, und die Österreich auch zusteht. Genau diese Mittelrolle, genau diese Brückenfunktion muss Österreich jetzt auch leisten, wenn es um die europäische Perspektive der Westbalkanstaaten geht. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass wir mit höllischem Tempo ohne zu schauen, was los ist und wie was werden wird, die Westbalkanländer in die Europäische Union aufnehmen. Sie sind nämlich noch nicht bereit. Aber ich weiß auch: Wenn wir diesen Ländern, die die Österreicher besonders gut kennen, die Beitrittsperspektive wegnehmen, dann entsteht auf Dauer auf dem westlichen Balkan genau das, was wir in den 90er Jahren erlebt haben. Dies ist eine hochkomplizierte, eine dramatisch komplizierte Region Europas und wir müssen uns darum kümmern - und vor allem die Österreicher müssen sich darum kümmern. Weil wir können dadurch, dass wir in unseren Regionen die Dinge so richten, dass sie nicht aus den Fugen geraten, auch beweisen, dass wir über eine gewisse Weltpolitikfähigkeit verfügen.

Diese Weltpolitikfähigkeit Europas ist mir ein wichtiger Punkt. Weil wir treten ja sehr oft großmäulig auf in der Welt und erklären allen anderen, wie was gemacht werden muss, aber ein ökonomischer Gigant wird auf Dauer außer Atem geraten, wenn er nicht auch ein politischer Fast-Riese wird. Und deshalb müssen wir in Fragen europäischer Außenpolitik in besonderen Fällen auch mit Mehrheit entscheiden können, damit wir eine Stimme erheben können in der UNO und sonst wo, anstatt dass wir uns selbst zur Sprachlosigkeit verdammen, weil wir es nicht schaffen, uns zu einigen. Nun ist es schwer, sich zu 28 immer zu einigen und zu verständigen. Dann muss man halt mit Mehrheit entscheiden.

Und die Österreicher täten gut daran, wenn sie ihre Ratspräsidentschaft nutzten, lieber Sebastian, um auch unsere Weltpolitikfähigkeitsmuskeln zu stärken. Du kannst das! Du warst ja ein begnadeter junger Außenminister und jetzt, wo Du noch zu höheren Ämtern und Würden emporgestiegen bist - und das hört ja nicht auf -, wäre es gut, wenn Österreich eingedenk seiner Geschichte, eingedenk der leidvollen Erfahrung seiner Geschichte, eingedenk der großen Erfolge seiner Geschichte alles tun würde, um Europa behutsam aber sicher sich von der Stelle bewegen zu lassen.

Nun ich mag ich nicht nur die Landeshauptleute, sondern auch Österreich insgesamt und gehöre zu denen, die - wie ich schon eingangs gesagt habe - gerne in Österreich sind. Ich bin auch immer froh, wenn ich Österreicher sonst wo in der Welt treffe - es tut immer gut. Und dann denke ich immer an Beethoven, der in einem autobiographisch eher schwachen Moment gesagt hat: ''Solange der Österreicher Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht.'' Nun würde ich die Republik nicht gerne auf Bier und Würstel reduzieren. Aber ich würde am liebsten haben, die Österreicher würden Menschen bleiben, die sich revoltieren, wenn es im Land oder in der Welt ungerecht zugeht. Österreich ist eine Republik, die gegen die Ungerechtigkeit kämpfen muss. Und deshalb wünsche ich der Republik auf ihrem weiteren Weg alles Gute.

Es lebe die Republik Österreich!

SPEECH/18/6027